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Album der Woche KW 23: Kendrick Lamar – Mr. Moral & The Big Steppers

Kendrick Lamar ist back! Am 13. Mai 2022 erschien nach 5-jähriger Pause endlich seine neue Platte „Mr. Moral & The Big Steppers“ und nicht nur seine Fans, sondern auch er selbst scheint die Tage bis zum Realese gezählt zu haben. Im Intro Song „United In Grief“ erzählt Lamar in einer Sprechpassage, weshalb seine Schaffenspause so lange andauerte und kündigt damit Tiefgang und Intimität für die nächsten 17 Tracks an.

Bild: Renell Medrano

One-thousand eight-hundred and fifty-five days. I’ve been goin’ through somethin’

Die letzten 1855 Tage waren nicht nur für Lamar, sondern auch für die Mehrheit der Weltbevölkerung besonders prägend, was sich auch an der Thematik des neuen Albums bemerkbar macht. Mit lyrischer Eleganz verbindet Lamar auf „Mr. Moral & The Big Steppers“ persönliche Krisen mit strukturellen Problemen. Dabei wechselt er immer wieder zwischen zwei Perspektiven: Dem reflektierten „Mr. Moral“ auf der einen Seite und dem vom Gangsterleben geprägten „Big Stepper“ auf der anderen. Damit wird schnell deutlich, dass das Doppelalbum keine leichte Unterhaltung für laue Sommerabende mitbringt, sondern eher eine musikalische Beleuchtung von Lamars Seele und der Gesellschaft darstellt.

Intime Einblicke erhalten wir vor allem auf der ersten Albumhälfte, wenn Lamar über Trauer, seine Sexsucht, toxische Beziehungen oder emotionale Unfähigkeit rappt. Auf der zweiten Hälfte nähert sich Lamar spezifischen sozialkritischen Themen eher aus autobiographischer Perspektive. Er bespricht dabei vor allem das transgenerationale Trauma der schwarzen Community, das Patriarchat oder das Trans-Sein.

Die sozialkritischen und gleichzeitig sehr persönlichen Inhalte geht Lamar häufig auf widersprüchliche Weise an. So ist der verurteilte Sexualstraftäter Kodak Black als Feature-Gast auf dem Album zu hören, obwohl Lamar in anderen Songs über die Problematiken vom Patriarchat, von Sexsucht und Seitensprüngen spricht. Auch homophobe Ausdrücke und das bewusste Deadnaming der trans-Familienmitglieder sorgen für Kritik. Mit diesen Widersprüchlichkeiten möchte sich Lamar gezielt von einem moralisch perfekten Verhalten distanzieren, das von ihm als international gefeierter Hip-Hop-Artist häufig erwartet wird. Er zeigt sich fehlbar, verwundbar und menschlich. Beim Zuhören wird nochmal klar, dass er an sich arbeitet, Therapie macht und dies auch weiterhin tun wird, wie er im Outro-Song „Mirror“ reflektiert. 

Dieses Album erzählt aber nicht nur eine lyrisch anspruchsvolle Geschichte, sondern hat auch musikalisch einiges zu bieten. Die Sounds sind unendlich weitreichend, von organisch-instrumentierten Beats über ruhige Orchesterparts bis hin zu Kammerchören. Die dominanteste Klangkomponente ist dabei allerdings das Klavier. Hinzu kommt Lamars Stimme, die sich in verschiedenen Stimmlagen als roter Faden durch die klassischen und synthetisierten Klänge zieht. Lamar spielt und experimentiert hier mit allen möglichen Stilen, Beats und Gemütslagen und schafft es trotzdem alles als ein zusammenhängendes Werk rüberzubringen. Dramaturgie, Lyrics und Sound bieten auf diesem Album wirklich große Vielfalt, sind teilweise gegensätzlich und ergänzen sich dennoch gegenseitig zu diesem dicht verwobenen Meisterwerk.

Autorin: Julia Bauereiß