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Rezension: Good Luck To You, Leo Grande

Eine unsichere 60-jährige Frau bucht einen jungen Escort für die Nacht. Was folgt, ist eine durch und durch unerwartete Geschichte, die den lang ersehnten frischen Wind in die Kinolandschaft bringt.

Bild: leograndefilm.co.uk

Am 14. Juli kam der Film Good Luck To You, Leo Grande (Dt.: Meine Stunden mit Leo) in die deutschen Kinos. Und wenn ich sage, ich habe noch nie so sehr einem Release-Datum entgegengefiebert, dann ist das auf keinen Fall übertrieben. Ich war seit Veröffentlichung des Trailers praktisch schon mal vor-verliebt in diesen Film – und wurde nicht enttäuscht.

Witwe trifft Escort

Nancy Stokes (Emma Thompson) – um die 60, ehemalige Lehrerin, Witwe – wartet nervös in einem Hotelzimmer. Es klopft an der Tür… Bereits hier hält Nancy die ganze Idee panisch für einen Fehler. Ein attraktiver, Anfang 20-jähriger Callboy namens Leo Grande (Daryl McCormack) steht vor der Tür. Nancy hat ihn für die Nacht gebucht. Sie kann sich nicht vorstellen, dass sie jemand attraktiv finden könnte. Sie will nur Sex, nicht mehr, nichts Spezifisches. Einfach nur mit jemandem schlafen, der nicht ihr verstorbener Mann ist, dem sie sich ihr gesamtes Leben lang untergeordnet hat. Doch Leo versteht sie. Nicht nur das, er findet sie sogar attraktiv. Aus einer Nacht werden viele – und für Nancy und Leo beginnt eine spannende Reise zu sich selbst.

Herzzerreißend, lustig und realistisch

Der Film nimmt uns mit auf eine intensive Berg- und Talfahrt. Wir treffen zu Beginn auf eine schüchterne Nancy, die gründlich vom Leben enttäuscht wurde und sich selbst nicht im Geringsten als attraktiv oder wertvoll betrachtet. Es ist herzzerreißend zu sehen, wie sie jeden Gedanken hinterfragt, bevor sie ihn überhaupt vollständig ausgesprochen hat.

Leo wirkt wie ihr Gegenstück. Er weiß genau, wer er ist, was er tut und lässt sich das auch nicht nehmen, nur weil die Gesellschaft das nicht verstehen will. Doch auch er muss seine Dämonen bekämpfen – wie viele das sind, enthüllt sich erst, als eine entscheidende Fassade um den jungen, selbstbewussten Mann einbricht.

Und all diese Momente, die überschwänglichen, die lustigen und die verzweifelten, dürfen wir hautnah miterleben. Die Gespräche stehen klar im Fokus, und jeder Egoismus des Kinos stellt sich dabei hinten an. Was meine ich damit? Ich habe oft bei Filmen das Gefühl, sie suchen nur das große Spektakel. “Der Mensch hat eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne als ein Goldfisch! Bloß keine Langeweile!” Aber nicht hier. Der Film nimmt sich Zeit für Nancy und Leo. Er lässt sie ausgiebig von sich erzählen – und durch die persönlichen Dialoge, die so zwischen den beiden zustande kommen, wird es auch keinen Moment langweilig.

Beeindruckend neu

Realisiert wird diese sehr gesprächsbasierte Geschichte mit beeindruckenden Bildern. Besonders, da der Film nicht einem hollywood-typischen, auf die Sekunde getakteten Muster folgt. Die Einblicke werden immer intimer, je näher wir Nancy und Leo kommen. Und ich werde nicht spoilern, aber so viel sei verraten: Die letzte Szene des Films ist die wahrscheinlich außergewöhnlichste Szene, die ich je im Kino erlebt habe.

Good Luck to You, Leo Grande fühlt sich nicht an wie ein „Schau mal, wie woke wir sind“. Er schreit nicht „Gebt uns den Oscar“ und er zeigt auch nicht angeberisch auf seine Cast-Liste. Klar, der Film ist höchst progressiv, hat eine 100-prozentige Garantie auf den Oscar für beste Darstellerin und bestes Drehbuch und ist natürlich toll besetzt. Aber nichts davon fühlt sich erzwungen an. Dieser Film wurde einfach gemacht, um eine Geschichte zu erzählen. Und das ist wirklich eine willkommene Abwechslung.

Keine Liebesgeschichte

Ja, ihr habt richtig gelesen. Die Erwartung hatte ich anfangs auch, aber der Film ist keine Liebesgeschichte. Oder zumindest nicht auf die Weise, wie man sie erwarten würde. Und auch wenn ich mir das normalerweise immer von einem Film erhoffe – Seelenverwandte, Happy End und neuer Eintrag auf meiner RomCom-Liste – so muss ich das hier korrigieren. Dass hieraus kein Märchen à la Pretty Woman wird, ist wahrscheinlich das größte Qualitätsmerkmal des Films. Es wird kein Bild von Sexarbeit gezeichnet, in dem der Escort nur die richtige Person finden muss, für die er seine Arbeit schlussendlich aufgibt. Leo und Nancy sind füreinander Wendepunkte – keine Wegbegleiter.

Fazit

Dieser Film geht über Sex hinaus. Er zeigt eine von Grund auf unsichere, patriarchal geprägte Frau, die ihre eigenen Bedürfnisse für Tabus hält und sich selbst ihr ganzes Leben lang vernachlässigt hat. Er zeigt einen jungen Mann, der mit Leib und Seele Escort ist und auf keinen Fall aus diesem Job „gerettet“ werden will. Dieser Film war der erste seit langem, der mich zum Nachdenken gebracht hat und dessen Geschichte mich tatsächlich – sogar nach meiner trailerbedingten Vor-Verliebtheit – überrascht hat. Ich kann ohne Zögern sagen: Jede:r sollte sich Good Luck to You, Leo Grande ansehen. So einen Film gab es wirklich noch nie.

Autorin: Ella Rank