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A House Divided

Kommentar von Luca Simon

„A house divided against itself cannot stand.“ Dieser viel zitierte Satz von Abraham Lincoln wird heute noch oft verwendet, um Uneinigkeit und Spaltung zu kommentieren, denn politische oder gesellschaftliche Zerwürfnisse sind auch in den Jahrhunderten nach Lincoln nicht aus der Mode geraten. In der Tradition zahlreicher mahnender Stimmen will nun auch ich auf eine gesellschaftliche Spaltung zu sprechen kommen, die uns hier und heute in Deutschland betrifft. Vorher hole ich allerdings noch etwas aus, denn vor nicht allzu langer Zeit gingen die langwierigen Präsidentschaftswahlen der USA zu Ende.

Deren Ergebnisse werden immer noch heiß diskutiert und angefochten. Diese Skepsis gegenüber dem Wahlausgang wird im Übrigen nicht nur von einem beträchtlichen Teil der Bevölkerung vertreten, sondern auch vom (Noch)-Präsidenten Donald Trump zusätzlich befeuert. Nun ist Skepsis gegenüber Wahlausgängen an und für sich nichts Neues und auch nicht demokratiegefährdend. Schließlich ist es auch diese Skepsis, die die Oppositionellen zahlreicher defekter Demokratien antreibt und deren Regierende auf Trab hält. Bei einer sehr transparenten und weitestgehend reibungslos verlaufenden Wahl, wie in den USA, ist diese Kampfhaltung aber schlicht unangemessen und realitätsverzerrend. Gleichzeitig ist dieses Verhalten symptomatisch für die Erwartungen vieler Amerikaner an das Ergebnis der Wahl, die von vielen als Schicksalswahl begriffen wurde, weswegen auch der Voter Turnout, also die Wahlbeteiligung, so hoch war wie selten zuvor. Das ist wiederrum verständlich, denn immerhin wurde von den Anhängern beider Wahllager damit geworben, dass der Sieg des jeweils anderen Kandidaten katastrophale Folgen für die amerikanische Demokratie mit sich brächte. Wenn man im deutschen Rundfunk ausgestrahlten Interviews mit Wahlgängern glauben darf, waren nicht wenige regelrecht überzeugt davon, dass es entweder zu einer sozialistischen Übernahme oder einem Zerfall des Rechtsstaats und einem Erstarken autoritärer Strukturen käme, wenn die Wahl den einen oder den anderen Ausgang nähme. Durch solche Faktoren, also der Angst vor Demokratiezersetzung, aber auch durch die teilweise extrem knappen Ergebnisse in zahlreichen Swing States, wird der Uneinigkeit Amerikas keine Chance zum Verebben geboten. Viel mehr noch wird die Spaltung dadurch bekräftigt und gewinnt weiter an Halt.

Zur näheren Veranschaulichung solcher gesellschaftlichen Gräben will ich an dieser Stelle die ARD-Produktion „Trump, meine Amerikanische Familie und ich“ empfehlen, in der Tagesthemen-Moderator Ingo Zamperoni über die Zerwürfnisse der eigenen Schwiegerfamilie berichtet und ihre Mitglieder sowie einige ihrer Bekannten zu Wort kommen lässt. Die Doku führt äußerst eindringlich vor, an welchen Punkt die Zerstrittenheit des amerikanischen Volkes vorgedrungen ist. Das wiederum überrascht beinahe, denn niemand argumentiert willkürlich und unnachvollziehbar. Die meisten haben gute Gründe für ihre Ansichten und ihre Wahlentscheidung, trotzdem ist die Schlucht zwischen den Akteuren der Doku scheinbar unüberwindbar.

Eigentlich ist politische Spaltung im Zuge einer nationalen Wahl ja auch normal. Es ist allerdings nicht normal, dass noch nach der Wahl die Schützengräben der politischen Lager immer tiefer gebuddelt und die Fronten immer weiter verhärtet werden. Für gewöhnlich ist so etwas höchstens an den Rändern des politischen Lebens zu erwarten. Bei dieser Wahl ging es – mit Blick auf die Wahlergebnisse – aber eben auch verstärkt um die Interessen der bürgerlichen Bevölkerung. Die „Wiedervereinigung“ der amerikanischen Gesellschaft mit sich selbst wird aller Voraussicht nach sehr große Kraftanstrengungen in Anspruch nehmen, die über den Wahlsieg eines bürgerlichen Politikers wie Joe Biden hinausgehen. An genau dieser Stelle will ich meine Mahnung aussprechen, allerdings nicht an die amerikanische, sondern an unsere deutsche Gesellschaft. 

Deutschland hat den Anspruch auf ein geeintes Land nämlich keineswegs gepachtet, was bereits an einigen Stellen der deutschen Nachkriegsgeschichte nur allzu deutlich geworden ist. Von der Wiedervereinigung 1990 und ihren bis heute kontrovers diskutierten Folgen hin zur Flüchtlingskrise von 2015 kam es immer wieder vor, dass deutsche Spaltung ein Maß erreicht hat, welches über bloße politische Meinungsverschiedenheiten hinausging (von der gravierenden Spaltung in zwei unterschiedliche Staaten mal abgesehen). Ein aktuelleres und ein uns hier und jetzt betreffendes Beispiel einer deutschen Spaltung lässt sich in den Entwicklungen der Corona-Pandemie und dem politischen sowie gesellschaftlichen Umgang damit verorten. Auch hier, wie in Amerika, bilden sich große gesellschaftliche Lager, in denen stets über das jeweils andere und seine Einstellungen geschimpft wird. Folgt man dem Diskurs von sozialen Medien und einschlägigen Reportagen sowie Satiremagazinen, entsteht der Eindruck, man müsse sich zu einem solchen Lager bekennen, da sich eins dieser Lager offensichtlich irren muss. Aber auch in diesem Fall sind die Oppositionen, die in solchen öffentlichen Diskursen suggeriert werden, tatsächlich keine wirklichen Oppositionen. Der gesellschaftliche Umgang mit der Pandemie lässt sich nicht strikt einteilen in Verschwörungstheoretiker und den Rest oder „die bürgerliche Mitte Deutschlands“. Die eigentliche Situation von Kritikern und Maßnahmenverteidigern ist nämlich deutlich komplexer. Es gibt nun einmal Abstufungen in Überzeugungen und Meinungen und während die einen ihre Argumentation auf ein faktisch falsches Fundament bauen, kommen die anderen, trotz faktisch korrekter Grundlage, zu teils irrsinnigen Schlüssen. Wieder andere argumentieren durchweg nachvollziehbar und logisch, werden aber nicht angehört, weil sie nicht laut genug schreien. Bestimmte Einstellungen sind definitiv nicht haltlos, andere schon, aber alle verdienen es angehört, statt abgeschmettert zu werden.

Hinter verschlossenen Türen festgesetzte Freiheitseinschränkungen sind selbstredend kontrovers und problematisch. Sie müssen deswegen auch öffentlich diskutiert und gerne auch in Demonstrationen angefochten werden. Pauschale Vorwürfe an Demonstranten sind dementsprechend unangemessen und helfen niemandem weiter. Es ist allerdings auch völlig verantwortungslos bei den geringsten Anzeichen – geschweige denn klaren Beweisen – für eine Pandemie mit zehntausenden anderen Demonstranten, weitestgehend ohne den eigentlich notwendigen Abstand und eine Maske, durch Leipzig zu ziehen und damit Infektionsherde zu befeuern. 

Bisher hat unsere hiesige Spaltung (glücklicherweise!) keine amerikanischen Ausmaße angenommen und noch können viele mit ihrer Verwandtschaft sprechen, ohne die Gefahr eines Schreiduells in Kauf nehmen zu müssen. Damit das so bleibt, muss allerdings jede/-r Einzelne/-r von uns auch bereit bleiben, aufeinander zuzugehen und die Gemeinsamkeiten unseres Denkens, statt seine Differenzen in den Fokus zu rücken. Wer sich verstanden und ernstgenommen fühlt, der ist auch empfänglicher für die Argumentation der anderen. Das Weihnachtsfest könnte somit tatsächlich die Chance bekommen, das angepriesene Fest der Liebe, statt ein Fest des zähneknirschenden Aufeinandertreffens zu werden. Das infragestehende, geteilte Haus muss eben keineswegs institutionell sein. Manchmal ist dieses Haus ganz schlicht, unscheinbar und privat, was es allerdings nicht weniger einsturzgefährdet macht.

Autor: Luca Simon