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Music (2021) – Wie gutgemeinte Repräsentation von Autismus im Film zu einer behindertenfeindlichen Katastrophe werden kann

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Kommentar von Amelie Dirks

Ein buntes Musical voller neuer Songs einer Musikerin, deren Hits im Radio rauf und runter laufen. Das Musical-Drama Music (2021) geschrieben, produziert und unter der Regie der australischen Singer-Songwriterin Sia klingt vielversprechend und ist nominiert für 2 Golden Globes. Auch der Hauptcast mit Kate Hudson und Leslie Odom Jr (vielen besser bekannt als Aaron Burr im Musical Hamilton), sowie der Jungdarstellerin Maddie Ziegler, die seit Chandelier das Gesicht in Sias Musikvideos ist, lässt hoffen.

Doch wirft man einen Blick auf die ersten Filmkritiken und in die sozialen Medien trifft man hauptsächlich auf eins: Entsetzen. Viele Autist*innen sind enttäuscht, da der autistische Titelcharakter Music von der neurotypischen Tänzerin Maddie Ziegler gespielt wird und nicht von einer autistischen Schauspielerin. Außerdem wird auch die stereotypische Darstellung kritisiert. 

Die Autismus-Spektrums-Störung ist eine komplexe und vielgestaltige neurologische Entwicklungsstörung. Trotzdem sind bisher fast ausschließlich zwei autistische Stereotypen in den Medien vertreten: Das meist hochintelligente Genie, das Schwierigkeiten mit sozialen Interaktionen hat oder, wie im Fall des Charakters Music, eine infantilisierte Darstellung non-verbaler Autist*innen, die in ihrer eigenen Welt zu Leben scheinen. Obwohl es aus der autistischen Community aufgrund dieser stereotypischen Darstellung Kritik regnet, scheinen die ersten australischen Fans den Film zu lieben. Die Filmpremiere in Australien war bereits am 14. Januar – einen Monat bevor der Rest der Welt sich ein eigenes Bild machen konnte. Ich bin also nicht ganz unvoreingenommen in diesen Film gestartet. Als Musicalliebhaberin hatte ich trotzdem die Hoffnung, dass Sias Regiedebüt mir vielleicht doch gefallen könnte. 

Doch Sias Film ist vielmehr ein Drama, das durch fantasievolle, bunte und schräge Musikvideos unterbrochen wird oder auch eine Reihe an Musikvideos unterbrochen durch eine entsprechende Anzahl an Dramen?

Da gibt es zum einen den Titelcharakter Music, eine autistische Teenagerin, die durch ihren durchstrukturierten Alltag und die Hilfe liebevoller Nachbarn ein völlig sorgloses Leben führt. Bis nach nur wenigen Filmminuten ihre Großmutter stirbt, die sich bisher um Music gekümmert hat. Der plötzliche Tod dieser Figur, die der Zuschauende kaum kennenlernen konnte, scheint einzig und allein der Grund für die Einführung der zweiten Hauptfigur, Music’s Halbschwester Zu, zu sein. Sie soll von nun an für Music sorgen und zieht bei ihr ein. Zu ist Drogenhändlerin und gerade selbst auf Entzug. Von Anfang an wird deutlich, dass sie kaum in der Lage ist sich um Music kümmern zu können, weil sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Hilfe bekommt Zu vom einfühlsamen Nachbarn Ebo, der Kinder im Boxen unterrichtet. Es entwickelt sich auch eine Liebesgeschichte zwischen Ebo und Zu, die durch die vielen anderen Handlungsstränge jedoch kaum tiefergehend gezeigt werden kann. Denn es gibt noch einen weiteren Nachbarsjungen, der sich viel um Music kümmert und ihr jeden Abend mit seiner Taschenlampe vom Haus gegenüber eine kleine Lichtshow bietet. Sia selbst hat einen Gastauftritt in ihrem eigenen Film. Sie bestellt bei Zu Drogen. Natürlich für die armen Kinder in Haiti. Das ganze bezeichnet sie als Popstars without Borders, angelehnt an die Organisation Doctors without Borders (in Deutschland auch bekannt als Ärzte ohne Grenzen). Allein diese zusammenhanglosen, verwirrenden Handlungsstränge sprechen nicht gerade für eine stringente Qualität dieses Films.  Außerdem ist es vielen Autist*innen nicht einmal möglich, den Film anzusehen. Gerade die Musikteile des Films sind voller verschiedener Muster und Farben, die bei vielen Autist*innen eine Reizüberflutung auslösen. Der Film schließt also viele Autist*innen als Zuschauende aus und ist damit definitiv kein Film für die autistische Community.

Das Hauptproblem des Films bleibt aber die Darstellung von Autismus. Dem Hauptcharakter fehlt die Tiefe. Music wirkt wie ein inspirierendes Objekt, das Zu dabei hilft aus dem Drogenmilieu hinauszukommen. Zudem ist es in jedem Fall Music, die sich an die neurotypische Welt anpassen muss um verstanden zu werden. Das eigentlich non-verbale Mädchen muss sich jedes Mal verbal äußern um zu zeigen, was sie möchte. Inklusion funktioniert anders.

Ein noch viel größeres Problem ist die Methode, die Zu und Ebo im Film nutzen, um Music bei einer Reizüberflutung zu beruhigen. In beiden Szenen hält einer der beiden Music fest und drückt sie mit dem eigenen Körpergewicht zu Boden, bis sie sich wieder beruhigt hat. Die Rolle Ebo erklärt: „I’m crushing her with love“. Auch das zeigt, wie wenig für diesen Film recherchiert wurde. Genau diese menschenunwürdige Methode, die im Englischen als prone restraint bezeichnet wird, ist für viele Autist*innen nicht nur traumatisierend. Falsch angewendet kann diese Art der körperlichen Fixierung tödlich enden. Diese Methode als einzige Methode zur Beruhigung anzupreisen, ohne auf die Gefahren hinzuweisen, kann künftig Autist*innen stark gefährden und zeigt ein irrelevantes Bild vom Umgang bzw. der Förderung von Betroffenen.

Obwohl im Film selbst das Wort Autismus nie ausgesprochen wird, schreckt Sia selbst nicht davor zurück, es in jedem Interview zu erwähnen und zu verteufeln. Viel lieber bezeichnet sie Autist*innen als Menschen mit speziellen Fähigkeiten. Autist*innen selbst fühlen sich von ihr dadurch verkindlicht und entmenschlicht und äußern dies in Kommentaren auf den sozialen Medien. Auch Sias Reaktion auf jegliche Kritik stößt in der autistischen Community auf Entsetzen. Auf Twitter beleidigt sie eine autistische Schauspielerin und betont, sie habe mehrere Jahre über Autismus recherchiert. Doch zeigt sich immer wieder, wie wenig Ahnung sie von Autismus hat. Sie behauptet, es wäre ihr nicht möglich gewesen eine autistische Schauspielerin für die Titelrolle zu engagieren. Nach hagelnder Kritik ihr Casting sei ableistisch gab sie schließlich zu, dass es zwar ableistisch, aber hauptsächlich nepotistisch gewesen ist. Maddie Ziegler arbeitet nämlich nicht nur seit Jahren eng mit Sia zusammen, sie ist zusätzlich auch ihre Patentochter und Sia äußert, sie wolle nie wieder ein Projekt ohne Ziegler machen. Die langersehnte Entschuldigung kam von Sia dann doch noch. Kurz, nachdem die Nominierungen für die Golden Globes bekannt gegeben wurden. Sia gab auf Twitter zu, sie hätte nicht genug recherchiert und den falschen Menschen zugehört. Zudem würde sie die Szenen in denen Music zu Boden gedrückt wird, künftig aus dem Film schneiden lassen und eine Warnung vor Beginn setzen. Die Entschuldigung selbst ist jetzt längst nicht mehr zu finden, da Sia kurz darauf ihren Twitter-Account vollständig gelöscht hat. Es wirkt daher längst nicht wie eine Entschuldigung an die autistische Community, sondern viel mehr wie eine Ausrede, um die Nominierungen der Golden Globes annehmen zu können.

Sias Music (2021) ist also nicht nur ein zusammenhangloser, schlecht recherchierter Film, sondern gefährdet und  diskreditiert auch noch diejenigen, die im Film repräsentiert werden sollten. Sia selbst ist ein Beispiel dafür, wie man als ernst zunehmende, respektvolle Regisseurin nicht arbeiten sollte. Gut, dass sie bereits verkündet hat, künftig keine Filme mehr machen zu wollen. 

Autorin: Amelie Dirks