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Rezension: Wer wir sind – Lena Gorelik

Scham. Bedauern. Reue. Und ein ständiges Unwohlsein. In Deutschland keine Einheimische und in dem Land ihrer Eltern eine Ausländerin. Ein Einblick in die Gefühlswelt einer Emigrantin: “Wer wir sind” von Lena Gorelik.

Bild: funklust e.V.

Was übrig bleibt vom Stacheldrahtzaun, von dem Mädchen, vom Gestank im Wohnheim, der sich in uns frisst, was übrig bleibt von dieser Mischung aus Bratfett, Verzweiflung, Schimmel und Angst, das ist die Scham. Die simpelste Scham von allen, die zu sein.

Die Autorin Lena Gorelik schreibt in ihrem neuen Buch „Wer wir sind“ über ihr Leben und ihre Familiengeschichte. Mit elf Jahren flüchtete Lenas Familie aufgrund ihres jüdischen Glaubens aus Russland nach Deutschland. Hier lebten sie zunächst 18 Monate in einer Baracke in einer Flüchtlingsunterkunft. In ihrem Buch schreibt Lena über die Gefühle, die sie mit dieser Zeit verbindet. Sie spricht darüber, wie schwer es ihren Eltern gefallen ist, Fuß in einem fremden Land zu fassen. Wie schwer es war zu sehen, dass die Ausbildung der Eltern in diesem fremden Land nicht akzeptiert wurde.

23.55 Uhr, der 2. Mai. Jedes Jahr schickt mein Bruder eine Nachricht über den Familien-Chat: «Herzlichen Glückwunsch». Zu was eigentlich, zur Ausreise, zu zehn, zu zwanzig Jahren in Deutschland. Was wäre dort aus uns, aus euch geworden, fragt meine Mutter über den Familien-Chat zurück. Hätten wir uns auch Nachrichten über Chats aus verschiedenen Städten geschrieben, vermutlich nicht. Sie hätten den Enkeln nicht erzählen müssen, wie das Leben dort war, wo sie früher zu Hause waren, sie hätten keine Wörterbücher gebraucht, um die Worte ihrer Tochter zu lesen, hätte die Tochter denn Worte geschrieben, in jenem anderen Leben.

Das Buch steckt voller Emotionen. Hin und wieder bleibt man in dem Gedankenfluss der Autorin stecken. Manchmal wird man durch eigene Scham zu einer kurzen Pause angehalten. Lena schreibt über die Beziehung zu ihren Eltern und ihrer Großmutter („бабушка“ – [babushka]). Wie diese damals in Russland waren, wie sie während der Zeit in der Flüchtlingsunterkunft waren und wie sie heute sind. Sie hält fest wie viel ihre Eltern für sie gegeben haben und immer noch geben. Sie spricht über die Immigration und das Aufwachsen im Russland der 80ziger Jahre.

Den Westen denke ich mir bunt. Bunt wie die Cola- und Fanta-Dosen, die die Mutter meiner besten Freundin, eine Übersetzerin, die deshalb nach Norwegen reisen durfte, mitgebracht hat, leere Dosen, die nun bei ihnen in der Vitrine stehen: Ausstellungsstücke aus dem Westen.

Entdeckt habe ich das Buch durchs Radio. In einem Interview bei Bayern 1 sprach Lena über ihre Kindheit und Jugend. Dabei sprach sie schon einige Passagen aus dem Buch an, die mich neugierig gemacht haben. Ich hatte zuvor noch nichts von Lena gelesen und fand, dass ihre persönliche Geschichte einen schönen Anfangspunkt darstellt.

“Wer wir sind” kann ich jedem empfehlen, der selbst immigriert ist oder mehr über die Gefühlswelt einer immigrierten Person erfahren möchte. Auch wenn die Kapitel teilweise unübersichtlich wirken und man sich in einigen verstrickten Sätzen verliert, so findet man sich doch in einer neuen Situation wieder. Konfrontiert mit einer neuen und hinterfragenden Perspektive. Aber Vorsicht, nach dem Lesen kriegt man plötzlich das Bedürfnis seine Geschichte und die seiner Familie festzuhalten. Ich persönlich habe mich in vielen Zeilen wiedergefunden. Dies kann natürlich an meiner eigenen Familiengeschichte liegen. Ich glaube aber, dass die Autorin es schafft die Beziehungen innerhalb der Familie auf eine sehr emotionale und gedankenanstoßende Weise zu erzählen. Nach dem Lesen hatte zumindest ich das Bedürfnis meine Eltern mal wieder anzurufen.

Autorin: Elisabeth Orlov