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Haute Couture meets Streetwear – Wie Margiela und Co. die französische Couture revolutionierten

Mode ist Vielfalt. Von urbanem Baggy-Chique bis hin zur extravaganten Abendrobe. Doch was passiert, wenn diese Grenze plötzlich fließend ist und die Unterschiede immer marginaler werden?

Bilder (v.l.n.r.): Fashion Network, Hustlers Junction, Vogue UK

„Die Haute Couture ist die Königsdisziplin der Mode.“

Vogue

Als Königin der Modezeitschriften beschreibt die Vogue das exklusivste Genre der Modewelt wie folgt: “maßgefertigte, hoch exklusive Roben, die in feinster Handarbeit in größtenteils Pariser Ateliers gefertigt werden und zweimal im Jahr die ganz große Bühne einnehmen”. Haute Couture hatte lange Zeit die Aufgabe, die Körper der darin verpackten Models zu umschmeicheln, ohne Platz für fehlende Perfektion. Couture galt als „gesitteter Einkaufs-Ausflug für gut betuchte Oberschichts-Damen“, die sich Chanels kleines Schwarzes als Everyday-Outfit in den Kleiderschrank hängen. Designer:innen wie Karl Lagerfeld, Christian Dior und Yves Saint Laurent erschufen den Mythos des perfekten Kleides, welches einen ‘gut angezogenen’ Körper idealisiert. 

Die Konstruktion des Idealkörpers – mit optimalen Maßen gleich der Size 0-Kollektionen, makellosem Auftreten und direkt am Model versiegelten Roben – behielt lange Zeit das Monopol der Fashion-Industrie. Modehäuser wie Maison Martin Margiela waren entscheidende Vorreiter eines Wandels, weg von verallgemeinernden Schnittmustern und bewährten Konzepten. Egal ob Thierry Muglers Roboter-Frau (gerne nachschlagen, sieht echt cool aus), Gianni Versaces Model-Muse Kate Moss, oder die Übernahme eines pinken Valentino-Federboa-Kleides aus der Kollektion des Designers Pierpaolo Piccioli in den Kleiderfundus von Lady Gaga – alles Momente, die die Haute Couture der heutigen Zeit beeinflussten. 

Das 1937 gegründete Modehaus Balenciaga gehörte schon früh zu den innovativsten Couturiers der Branche. Cristóbal Balenciaga revolutionierte die gehobene Damenmode unter Verwendung einer schlichten Formensprache und nüchternen Schnitten. Als Perfektionist erlangte sein Stil schnell hohes Ansehen unter Berühmtheiten wie Coco Chanel, Grace Kelly oder Marlene Dietrich. Nachdem die Haute Couture in den 60er Jahren immer mehr mit der Konkurrenz der Prêt-à-porter-Mode (Ready-to-wear, also das, was wir tagtäglich sehen und tragen) zu kämpfen hatte, beendete der Gründer seine Arbeit an der Haute Couture und vererbte sein Imperium. Erst 30 Jahre später beschloss der damalige Chefdesigner Nicolas Ghesquière die Neuauflage des Modehauses und seiner Couture, unter Einbezug zeitgenössischer Inspirationen. 

Mit der Dekonstruktion des perfekt sitzenden Abendkleides läutete Margiela gegen Ende des 20. Jahrhunderts eine neue Ära des Couture-Verständnisses ein. In der ursprünglichen Version war der Arbeitsprozess zwingend Teil des Unsichtbaren, und durfte keinesfalls am fertigen Stück zu erkennen sein. Seine unfertigen Kleider mit sichtbaren Nähten, zu sehenden Abnähern und überschnittenen Formen verkörpern ganz bewusst eine ent-fetischisierte Weiblichkeit, wie sie der Couture zuvor fremd war. Seit 2006 ist Margiela Teil der halbjährlichen Couture-Shows in Paris und repräsentiert dort organisch-individualisierte Couture, fernab von perfekt-standardisierten, leblosen Mannequins. Margiela rückt den dekonstruierten Körper in den Vordergrund, die wie-angegossen-sitzenden Formen in den Hintergrund – Stichwort Oversize.

Modebegeisterte verknüpfen diesen Begriff möglicherweise automatisch mit dem Genre der Streetwear, einem nun wirklich ganz anderen Kleidungsstil – oder? Streetwear hat ihren Ursprung in der kalifornischen Hip-Hop-Szene der 1970er bzw. -80er Jahren. Weite T-Shirts und Hoodies, urbane Baggy Pants (Hosen mit tiefem Schritt) und typischerweise Sneakers – das trägt die Jugend. Auch hier geht es, ähnlich wie bei Margiela, um Rebellion, um Andersartigkeit, um Abgrenzung von den gesitteten Standards der Gesellschaft. Von dort ausgehend verbreitete sich die Streetwear-Kultur weltweit. Besonders durch namhafte Designer wie Shawn Stüssy und Brands wie Supreme erlangte Streetwear ein gewisses Ansehen, das sich über die Jahre hinweg über den Horizont der Hip-Hop-Szene hinaus erstreckte. Der Aufstieg des Hip-Hops und Raps hin zu einem der international meistgehörten Musik-Genres, und die damit verbundene ästhetische Grundhaltung derer Musikvideos, verstärkten diesen Effekt. Kleidung spielt dabei schon lange eine entscheidende Rolle, von schlichten Air Force über ausgefallene Gucci-Sweatshirts bis hin zu Bucket-Hats.

Große Kollaborationen und einschneidende Veränderungen sind die Folge. Symbiotische Wechselwirkungen zwischen Streetwear-Creatives à la Shawn Stüssy und Couture-Labels wie Balenciaga bereiteten der Ästhetik der urbanen Hip-Hop-Szene den Weg in einige der bekanntesten Modehäuser der Zeit: Givenchy, Fendi, Prada, Gucci oder das ursprünglich konservative Louis Vuitton. Letzteres befand sich bis zu seinem Tod am 28. November unter der Leitung des Creative Directors und Designers Virgil Abloh – Gründer der Marke Off-White, Schlüsselfigur der Modewelt 2021. Das GQ-Magazin benennt außerdem einflussreiche Tastemakers wie A$AP Rocky oder Kanye West, die die großstädtischen Straßen zum Catwalk der internationalen Couture erheben. Hochkarätige Gucci-The North Face-Outdoor-Jacken, Vuitton-Supreme-Kollaborationen, Converse-anmutende Dior-Hightops sowie Stüssy-Signaturen auf Dior-Pieces – und das ist nur der Anfang. 

Diese ganzen Begriffe klingen schon für sich wie eine eigene Kultur. Und genau das sind sie im Grunde genommen auch. Das Mosaik aus teuren Designer-Marken und (leider nicht weniger teuren) Streetwear-Ikonen hat eine riesige Anziehungskraft, besonders für das jüngere Publikum. Margiela, Balenciaga und Co. gelten hierbei sowohl als High-Fashion Couture-Labels, als auch als Streetwear-Trendsetter. Es gilt immer die extravaganteste Kollaboration zu besitzen, die außergewöhnlichsten Sneaker und die wildesten Bauchtaschen. Die Brands treffen hier exakt den Zahn der Zeit und definieren damit die Bedeutung von Luxus neu.

Autorin: Madelaine Wilma