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Frauen: Die unsichtbare Hälfte

Unsere Welt wird von Daten dominiert. Diese werden meistens von Männern für Männer erhoben und bilden somit die Grundlage für systematische Diskriminierung – Frauen* werden bei der Datenerhebung einfach vergessen. Die britische Autorin Carolina Criado Perez legt in ihrem Buch Unsichtbare Frauen offen, welche gravierenden Folgen die sogenannte Gender Data Gap haben kann.

Bild: Sung Jin Cho (Unsplash)

Disclaimer: In diesem Artikel wird der Begriff FLINTA* verwendet. FLINTA* sind Personen, die eine andere Geschlechtsidentität haben als cis-männlich. Die einzelnen Buchstaben stehen also für Frauen, Lesben, Intersexuelle, Nonbinäre, Transgender und Agender, der Stern für alle, die sich in keinem der Buchstaben wiederfinden, trotzdem aber nicht cis-männlich sind.

Autos sind Männersache

Musstest du schon einmal den Sicherheitsgurt von dir weghalten, weil er dich sonst in den Hals schneidet? Oder deinen Sitz nach oben und vorne verstellen, um genug vom Verkehr zu sehen? Dann bist du wahrscheinlich kein durchschnittlicher Cis-Mann.

Autos werden für Cis-Männer gebaut. Die Sicherheit eines Autos wird in der EU in fünf Sicherheitstests auf die Probe gestellt – mit einem Crashtest-Dummy, der den Durchschnitts-Menschen darstellen soll. In einer männerdominierten Produktentwicklung entspricht der Durchschnitt dann eben eher „männlichen“ Maßen: Der sogenannte „50-Perzentil-Mann“ mit 1,75 Meter Körpergröße, 78 Kilogramm Gewicht und Muskelverteilung und Wirbelsäulenaufbau eines Cis-Mannes.

Die Folge davon: FLINTA* haben ein 17 Prozent höheres Risiko bei einem Unfall tödliche Verletzungen zu erleiden, obwohl sie seltener in Autounfälle verwickelt sind. Mit 48 Prozent größerer Wahrscheinlichkeit werden sie schwer und mit 71 Prozent höherer Wahrscheinlichkeit mittelschwer verletzt.

Als das den Firmen bewusst wurde, haben sie „weibliche“ Dummys entworfen. Verändert haben sie dabei allerdings nur die Größe. Der Körperbau wurde beibehalten – also keinesfalls eine Durchschnittsfrau. Zudem wird die Puppe auch nur in einem einzigen Test verwendet, bei dem sie auf dem Beifahrersitz sitzen darf.

Medizinische Fehler

Auch in der Medizin kann die Gender Data Gap lebensbedrohlich werden. Der cis-männliche Körper gilt dort als Prototyp, bildet somit die Grundlage für Medikamententests, Forschung und Behandlung, obwohl es maßgebliche Unterschiede zwischen dem „männlichen“ und „weiblichen“ Körper gibt.

FLINTA* sterben aus diesem Grund unter anderem mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an einem Herzinfarkt als Männer. Als die typischen Symptome gelehrt bekommt man Schmerzen in der Brust und im linken Arm – vor allem jüngere FLINTA* weisen allerdings ganz andere auf: Bauchschmerzen, Kurzatmigkeit, Übelkeit und Müdigkeit. So werden Herzinfarkte bei FLINTA* häufig übersehen oder fehldiagnostiziert.

Auch bei der Dosis von Medikamenten wäre eine angepasste Behandlung sinnvoll. FLINTA* können diese langsamer abbauen und benötigen deshalb eine niedrigere Dosierung, was allerdings selten beachtet wird.

Diese Datenlücken in Medizin und Sicherheit sind auf keinen Fall nur Gender-Gaga, sondern ein ernsthaftes Problem. In anderen Bereichen sind sie weniger bedrohlich, allerdings trotzdem unangenehm.

Männer als Maßstab für Produkte

Kommst du mit deinem Daumen in jede Ecke deines Smartphones? Diese sind für größere Hände oft leichter bedienbar, weil sie – wie viele vermeintlich geschlechtsneutrale Produkte – an Cis-Männern orientiert sind. Spracherkennungssoftwares verstehen tiefere Stimmen besser und „weibliche“ Gesichter werden bei Gesichtserkennung schlechter erkannt. Selbst in der künstlichen Intelligenz kommen Cis-Männer häufiger vor. In den Daten, mit denen sie gefüttert wird und unter den Entwickler:innen sind FLINTA* unterrepräsentiert.

Raumplanung von Toiletten

Im Alltag fällt die geschlechterspezifische Datenlücke ebenfalls auf. An öffentlichen Toiletten in der Schlange zu stehen ist für Frauen* vorprogrammiert. Die Waschräume für Männer* haben zwar oft die gleiche Größe wie die für Frauen*, das ist allerdings etwas zu kurz gedacht: Da Urinale weniger Platz einnehmen, können die Toiletten von mehr Personen gleichzeitig benutzt werden. Außerdem wird nicht einbezogen, dass Frauen* mehr Zeit benötigen, da sie oft mit pflegebedürftigen Menschen unterwegs sind oder Hygieneprodukte wechseln müssen. Die gleiche Fläche sorgt also nicht automatisch für Gerechtigkeit.

Raumtemperatur in Büros

In den 60er-Jahren hat man in den USA die ideale Durchschnittstemperatur für ein Büro errechnet – anhand der Stoffwechselrate eines Cis-Mannes. FLINTA* haben aber einen anderen Stoffwechsel und eine andere Fettverteilung. So ist es für FLINTA* in Büroräumen rund drei Grad zu kalt – sie fühlen sich bei 25 Grad am wohlsten, Cis-Männer dagegen bei 22 Grad.

Wissenschaft sollte für alle mitdenken

Die Gender Data Gap hat Folgen. Manche sind nur unangenehm, andere fatal – nicht nur für Frauen. Alle Menschen, die nicht cis-männlich sind, werden dadurch diskriminiert und auch Hautfarbe und der sozioökonomische Hintergrund können eine Rolle spielen. Um diese Datenlücke zu überwinden, muss in der Wissenschaft eine intersektionale Perspektive etabliert werden.

Autorin: Kaja Lübeck