Es ist noch nicht mal 20:00 Uhr. 19:21 Uhr, um genau zu sein. Früh, ich weiß. Zu früh eigentlich, für mein Gedankenkarussell. Zu spät für alle kommenden Generationen.
Wow, das war pathetisch. Ganz so schlimm ist es nicht. Vermutlich. Selbstmitleid sei Dank ist es mir trotzdem erlaubt, die Situation, von der ich spreche, zu reflektieren:
Stell dir vor, du verbringst deinen Freitagabend gemütlich auf der Couch, ungeschminkt (ja, ich weiß, Naturschönheits-Männer brauchen den ganzen Schnickschnack ja sowieso nicht) und allein, einfach, weil du das so willst. Klingt gut? Falsch! Wenn um 21:04 Uhr nämlich der heutige BeReal-Alarm losgeht, und du panisch nach einem Glas Wein oder einem ganz besonderen Foto-Spot für dein Posting suchst, wird dir erst bewusst, wie langweilig doch dein Leben ist. Niemand darf wissen, dass du zuhause bist – und das auch noch freiwillig! Noch 36 Sekunden, keine Zeit mehr für ein professionelles Set-Up. Die einzige Option, nicht vollends auszuscheiden, ist es, den Stay-at-home-Look zu perfektionieren. Omas Stricksocken aus der Schublade bei 22 Grad Heiztemperatur sind vielleicht nicht Michelangelos David des BeReal-Horizonts, immerhin aber ein Hobbykünstler-Werk. Naja, zumindest das eines Vorschulkindes. Egal, zu spät. Es dauert einen kurzen Augenblick, da flattern schon die kreativen Schöpfungen deiner Freund:innen in die App, und der Wettstreit um das interessanteste und aufregendste Leben beginnt.
Deine weihnachtlichen Februar-Kuschelsocken haben definitiv keine Chance gegen Lisas tropischen Cocktail aus der neuen Bar. Der stinkt aber auch ab gegen Leons wackeliges Gruppenfoto mit 10 neuen, viel-zu-fröhlich-Freund:innen im Club, und gegen Maik und Laureen am Strand von Bali haben wir sowieso alle verloren.
Die Wahrheit ist: Lisa und Leon haben um 21:04 Uhr genauso panisch umher-inszeniert wie du, neue “Freund:innen” für exakt 2 Minuten gefunden und den wässrigen Sex on the Beach vom Strand in den Himmel gelobt. Okay, Maik und Laureen sind vielleicht wirklich auf Bali, das Wetter ist aber bescheiden und der indonesische Traumstrand ist nunmal so oder so der Inbegriff des perfekten, neuzeitlichen Fotospots. Glück gehabt, gutes Timing.
BeReal ist konzipiert, um die wahren Gesichter hinter unseren Instagram- und TikTok-Masken zu zeigen. Wäre die App vor all dem erschienen, und würden wir nicht schon lange den Idealen der Fake-fluencer nacheifern, dann, womöglich, wäre die App eine absolut grandiose Erfindung. Wäre, hätte, könnte. Die Wahrheit ist, das Nutzungsverhalten entspricht nicht der ursprünglichen Intention. Reale, spontane Situationen sehen wir auf den wenigsten Fotos. Die Videos, die genau das auf die Schippe nehmen, finde ich dagegen echt witzig und ziemlich authentisch. In etwa à la “Behind the scenes, wie ich versuche, viel cooler auszusehen, als ich bin.” Viel cooler, als wir alle sind. Und das finde ich zur Abwechslung mal wirklich cool.
Let’s BeReal – in echt: Keines unserer Leben ist jeden Tag ein roter Teppich. Highlife 24/7 ist ein Wunschtraum und fühlt sich auf Dauer an wie im Delirium. Egal wo du bist oder was du machst – es geht immer höher, schneller, besser. Social Media macht das ganze Spiel nur leichter – den Sieger siegreicher und den Verlierer verlorener.
Es spricht absolut nichts dagegen, feiern zu gehen, neue Leute kennenzulernen und Cocktails auf Bali zu trinken (dagegen besonders nicht), aber eben genauso wenig dagegen, zuhause zu bleiben. Beides liebe ich. Es spricht nichts dagegen, sein Leben gut aussehen zu lassen, aber eben auch nichts dagegen, zu zeigen, wie langweilig der Alltag sein kann.
Ich für meinen Teil nutze BeReal nicht. Nicht, weil ich weniger handysüchtig bin als Andere, oder weil ich nicht gerne meinen Alltag im Rampenlicht arrangieren würde. Ganz im Gegenteil. Sondern eher, weil ich Angst habe, mich immer weiter an den sozialen Standards messen zu müssen. Ich bin jung, ich sollte herausfinden, was mich persönlich glücklich macht, wo meine ganz eigene Serotonin-Quelle liegt. Mit steinalten 21 Jahren sollte ich eigentlich auch schon alles wissen, alles erreicht haben, und überall gewesen sein. Doch stattdessen verbringe ich meine Zeit damit, zu planen, wie ich mein überhaupt (noch-) nicht perfektes Leben perfekt aussehen lasse. Wie mein Leben den Anderen gefallen könnte.
Es ist Freitagabend. 20:10 Uhr. Ich hole mir meine Heizdecke und setze mich zu meinem Freund aufs Sofa. Wir gucken Ice Age. Mein Leben ist perfekt…und ganz real. Gute Nacht.
Autorin: Madelaine Wilma