Rufschädigung von Mitwirkenden, Knebelverträge, falsche Versprechen, mutmaßlich teils schwere und gefährliche Schikanen: Die Liste von Kritik an der Reality-TV-Sendung Germany’s Next Topmodel ist lang. Bei diesen Punkten muss man sich langsam mal fragen, ob ‘Ausbeutung’ nicht auch auf dieser Liste stehen sollte.

GNTM geht mal wieder an den Start. Zum 20. Mal sucht Heidi Klum nun schon nach dem nächsten deutschen Topmodel – logisch, bisher ist sie ja auch immer mehr oder weniger krachend daran gescheitert. Zumindest, wenn man der Prämisse der Show Glauben schenkt. Im Ernst: Glaubt nach neunzehn Staffeln immer noch jemand daran, dass es bei GNTM wirklich darum geht, (Top-)Models zu finden?
Ich selbst habe die Sendung nur so oft gesehen, dass ich es an einer Hand abzählen kann. Das letzte Mal war 2020, als mich meine Mutter während des Lockdowns vor den Fernseher zerrte. Damals lief die Staffel mit Lijana Kaggwa, die später zu einer der schärfsten Kritikerinnen der Show wurde.
Eine andere Kandidatin, die in der ersten Folge für ziemlichen Aufruhr sorgte, war die damals 27-jährige Marcia. Diese war (laut eigener Aussage) bereits Model und zum offenen Casting gekommen, weil ihr eine Freundin davon erzählt hatte – anscheinend lag ein Missverständnis vor. Marcia selbst konnte mit GNTM erstmal nichts anfangen, auch der Name Heidi Klum sagte ihr nichts. Am Ende verließ sie die Show noch in der ersten Folge – vor allem, weil sie für ihre Zeit nicht bezahlt wurde.
Was die Show selbst und die Klatschpresse versuchten, als negativ darzustellen, habe ich damals gefeiert. Nicht nur zieht hier jemand selbstbewusst ihr Ding durch, sondern ist auch nicht gewillt, sich für die Unterhaltung oder sonstigen Profit Anderer öffentlich erniedrigen zu lassen. Und das auch noch unbezahlt… Moment, bitte was?!?
Kein Geld für GNTM-Kandidat:innen?
Die (anfangs teilweise minderjährigen) Kandidatinnen und seit letztem Jahr auch Kandidaten der Show werden während der Produktion unter massiven mentalen Stress gesetzt. Die teils heftigen, aber menschlichen Reaktionen darauf werden im Anschluss zusammengeschnitten und öffentlich zur Schau gestellt, wobei die Teilnehmer:innen häufig nicht gut rüberkommen. Dieser Aspekt von GNTM wird seit Jahren zurecht kritisiert und ist demnach einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Dass das Ganze stattfindet, ohne dass die Teilnehmer:innen dafür eine Entschädigung in Form von Geld erhalten, scheinen hingegen weniger Leute zu wissen.
Fakt ist: GNTM ist eine richtige Geldmaschine. Fast vier Millionen soll ProSieben einmal mit einer einzigen Folge verdient haben. Vielleicht werden die Staffeln deswegen immer mehr in die Länge gezogen?
Bei derartigen Profiten möchte man doch hoffen, dass alle Mitwirkenden auch entsprechend daran beteiligt werden. Tatsächlich kennen wir auch das ungefähre Gehalt einer Person am Set: Heidi Klum erhielt allein 2020 eine Gage von acht Millionen Euro. Auch sonst scheinen alle Mitwirkenden halbwegs vernünftig bezahlt zu werden, zumindest ist nichts Gegenteiliges zu hören – außer, wenn es um die Kandidat:innen geht: Sie erhalten nicht einmal eine Aufwandsentschädigung für den Dreh. Dabei stehen sie gemeinsam mit Heidi Klum im Mittelpunkt der Sendung und ohne sie wäre die Show überhaupt nicht möglich.
Die Kandidat:innen sind außerdem diejenigen am Set, die wohl den schwersten Job haben: Sie stehen permanent unter Stress, haben kaum Privatsphäre und haben während der Produktion kaum Möglichkeit zum Kontakt mit der Außenwelt wie Familie und Freund:innen. Darüber hinaus werden sie laut Aussage einiger ehemaliger Teilnehmerinnen hinter den Kulissen schikaniert. Bei derartigen Arbeitsbedingungen wäre es eigentlich das Mindeste, sie entsprechend zu entlohnen – und zwar mit Geld.
Das Märchen von der ganz großen Chance
Aber mit dieser Aussage bin ich ja absolut nicht fair, zumindest wenn man einigen Verteidiger:innen der Sendung glaubt. Schließlich werden die Teilnehmer:innen ja bezahlt – in “Exposure”. Also indem man sie an die Öffentlichkeit bringt. Das garantiert aber nicht, dass sie dauerhaft dort bleiben werden, geschweige denn, dass sie von ihrer öffentlichen Bekanntheit auch tatsächlich profitieren können – denn häufig hinterlässt die Show auch ein negatives Schlaglicht auf den Kandidat:innen. Wenn öffentliche Bekanntheit also der Lohn für die Mitwirkung als Kandidat:in bei GNTM ist, Leute dann aber wieder aus dem Rampenlicht verschwinden, bevor sie es nutzen können oder im schlimmsten Fall sogar öffentlichem Spott ausgesetzt sind, dann ist das meiner Ansicht nach kein wirklicher Lohn.
Fakt ist, wir leben in einem kapitalistischen Wirtschaftssystem. Das hat viele Schattenseiten, heißt aber eben auch: Jede:r gehört für geleistete Arbeit in einem profitorientieren Unterfangen vernünftig entlohnt – mit Geld, denn das ist in diesem System das Einzige, was wirklich zählt. Alles andere ist Ausbeutung. Die “Kandidat:innen” bei GNTM sind letztlich Darsteller:innen und Mitwirkende wie alle anderen der Show auch – und alle Mitwirkenden, einschließlich Darsteller:innen, gehören vernünftig entlohnt.
Mit seiner Gagentaktik ist GNTM im deutschen Fernsehen übrigens ziemlich alleine. Auch, wenn sich über die Gehaltsbedingungen in anderen Reality-TV-Shows durchaus diskutieren lässt, Darsteller:innen erhalten zumindest irgendeine Form von Kompensation. Zwar ist niemand gezwungen, an GNTM als Darsteller:in mitzuwirken – den Kandidat:innen die Schuld für ihre Situation zuzuschieben, ist jedoch auch nicht fair.
GNTM ist die populärste deutsche Reality-TV-Show, was ihr eine gewisse Machtposition verschafft. Statt diese positiv zu nutzen, tragen Sender ProSieben und die Produktionsfirma RedSeven Entertainment mit der ausbleibenden Bezahlung der Darsteller:innen zu einer gesellschaftlichen Normalisierung neoliberaler Ausbeutung bei. Leider fällt das Konzept “harte Arbeit gegen Öffentlichkeit” aufgrund der gesellschaftlichen emotionalen Unreife auf fruchtbaren Boden. Somit werden diese Verhältnisse weiterhin einfach hingenommen – und Heidi Klum wird auch dieses Jahr wieder einmal (nicht) Germany’s Next Topmodel finden.
Autor:in: Cassandra Haas