Bild: Mike Zenari

Im Vorfeld zu seinem Auftritt beim beim Mini Pop Up Open Air auf der Kulturinsel Wöhrmühle traf ich mich mit Martin Kohlstedt zum Interview und kann sagen: Noch nie habe ich mich mit einem Menschen unterhalten der innerlich so klar in seiner Art zu denken und gleichzeitig so zerrissen ist. Dieser Konflikt und die Suche nach dem inneren Ich treibt ihn an und spiegelt sich in seiner Musik wider. Fernab vom Kitsch ist seine Musik berührend und übermittelt ein intensives Lebensgefühl. Sphärische Klänge und elektronische Klangfarben kennen keine Grenzen. Dieser dynamische Fluss aus wummernden Synthesizern und feinfühligen Klaviermelodien ist der Beweis dafür, dass das Klavier viel mehr als nur eine hölzerne Kiste ist in der fallende Hammer auf stählerne Saiten schlagen.

Jedes seiner Konzerte ist eine experimentelle Reise mit dem Klavier. Martin Kohlstedt, dessen Name schon nach hochkultureller Moderne klingt, entwickelte über die Jahre ein Konzept aus fast schon mathematisch anmutenden Modulvariationen. Viele seiner Stücke auf seinen Alben mögen deshalb nicht ganz abgeschlossen wirken, sondern finden erst bei Live-Auftritten zur Vollendung. Die Liedtitel seiner Stücke sind dabei codeartige Legosteine, die ein unendliches Potenzial an Kombinierbarkeit bieten. Er verfolgt demnach eine Philosophie nach der die Titel zweitrangig sind. Entscheidend für ihn ist ist die Musik als kommunikatives Mittel und der Diskurs zwischen Interpret und Zuhörer. Wo andere nichts dem Zufall überlassen, leben Kohlstedts Konterte von der Macht des Zufalls. Wobei er mit seinem beeindruckenden Improvisationsprogramm sogar noch einen Schritt weiter geht und urplötzlich Stücke abbricht, weil zu viele Ideen gleichzeitig auf ihn einwirken und zu keinem zufriedenstellenden Ende führen können. Dieses provozierende Spiel am Rande der eigenen Kontrolle ist ein wunderbarer Gegenpol zur alltäglichen Reizüberflutung. Ähnlich wie Olafur Arnalds, Hammock oder Sigur Ros ist er die rettende Insel im Meer aus Millionen radiotauglichen Dreiminutenliedern.

Es war mein erster Konzertbesuch nach dem Lockdown. Wohl auch deshalb war ich kaum darauf vorbereitet mit welcher emotionalen Wucht es auf mich eindreschen würde. Die Bühne als Ort der puristischen Einfachheit ohne opulente Deko erstickte jede potenzielle Ablenkung im Keim, sodass ich mich unter sternenklarem Himmel vollends im Sog der Musik verlieren lassen konnte. Dieses einzigartige Konzerterlebnis wird mir sicherlich als eines der schönsten in Erinnerung bleiben.

Autor: Sebastian Schroth