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Jan Böhmermann – Gefolgt von niemanden, dem du folgst.

Quelle: KIWI Verlag

Narzisstischer Boomer Essay oder zeitgeschichtliche Dokumentation?

Das am 10. September 2020 erschienene Buch des ZDF-Moderators und Podcasters Jan Böhmermann „Gefolgt von niemanden, dem du folgst“ beschreitet neue Wege: Das gesamte Buch besteht aus eigenen Tweets der letzten 11 Jahre. Ob das an Narzissmus nicht zu übertreffen ist oder vielleicht eine zeitgenössische Dokumentation darstellt erläutert unser Redakteur Max Schmid.

Ich stand dem Buch von Jan Böhmermann vorab sehr kritisch gegenüber. Es erschien mir wie eines der ersten „Corona Projekte“ – also Projekte, die man anfängt, weil man während des Lockdowns nicht weiß, was man mit seiner Zeit anfangen soll. Inzwischen denke ich aber, dass die Pandemie ein guter Zeitpunkt für den Schluss eines zeitgeschichtlichen Buches ist. Denn es ist davon auszugehen, dass wir in einigen Jahrzehnten von einer Zeit vor- und einer Zeit nach Corona sprechen werden.

Böhmermann zufolge war der Grund für sein Buch, das Internet in die analoge Welt zu holen. Für mich ist das ein typischer Ausdruck von Boomer-Denken. Der Sinn von Plattformen wie Twitter ist es, schnell und unkompliziert seine Meinung mit anderen Menschen zu teilen. Die Meinungsäußerungen auf sozialen Medien sind meiner Ansicht nach tagesaktuell zu verstehen und deshalb nicht dazu geeignet, in einem Buch zusammengefasst zu werden. Auf der anderen Seite kann ein vor 10 Jahren veröffentlichter Tweet vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklungen auch heute noch eine gewisse Relevanz besitzen. Tweets, die oft im Affekt verfasst werden, aus dem Safe Space Twitter zu entfernen kann aber auch zeigen, wofür sich Verfasser im Nachhinein rechtfertigen oder entschuldigen sollten. Es stimmt tatsächlich, dass viele Menschen keinen Überblick mehr darüber haben, welche Daten, Meinungen, Fotos etc. von ihnen im Internet sind. Vor allem auf Twitter ist die Datenmenge – in schriftlicher Form – enorm.

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Das zeigt auch die Länge des Buchs. Auf 464 Seiten verarbeitet Böhmermann seine eigenen Tweets der letzten 11 Jahre. Betrachtet man das Buch von der Seite, lassen sich wie bei einem Baum Jahresringe erkennen, die zeigen, wann ein Jahr endet und ein neues beginnt. Die kontextuelle Einordnung innerhalb der Jahre gelingt mit Hilfe von Fußnoten, die fast jeden Tweet zieren. Sie helfen dabei, die tagesaktuellen Geschehen, die mit wenigen Zeichen beschrieben wurden, zu kontextualisieren.

Und hier liegt die Stärke und Bedeutung des Buchs. Es handelt sich um eine Chronologie der letzten 11 Jahre. Alle bedeutenden und weniger bedeutenden Geschehnisse und Persönlichkeiten der Zeitgeschichte sind darin vertreten. Herausragend dabei: Dadurch, dass die Tweets direkt in der Situation geschrieben wurden, ist die emotionale Ebene einzelner Geschehnisse wesentlich deutlicher und intensiver spürbar als in einer regulären Chronologie der Ereignisse. Wie bahnbrechend das letzte Jahrzehnt in vielerlei Hinsicht war, zeigt Böhmermanns Buch nicht nur in sachlicher, sondern teilweise auch in humoristischer und satirischer Form. Einzelne Ereignisse wie der Sieg der AfD bei der Bundestagswahl 2013 und 2017, Pegida, Trumps Wahlsieg 2016, Terrorismus, Böhmermanns Erdogan Affäre, die Strache-Sache, FFF, die Flüchtlingssituation 2015, Deniz Yücel, Hate Speech im Internet, die Silvesternacht in Köln, Hetzjagden in Chemnitz und viele weitere brisante Themen sind vertreten. Nicht von einer historischen, politik- oder sozialwissenschaftlichen Seite aus, sondern als Böhnermamms Sicht auf die Welt. Dabei gelingt es Ihm, auf der einen Seite autobiographische, auf der anderen Seite gesamtgesellschaftliche Geschehnisse zu verbinden. Die einzelnen Ereignisse in 460 Seiten aneinandergereiht können die heutige Situation natürlich nicht vollständig erklären, sorgen aber für viele „AHA“-Effekte bei den Lesenden. 

Ich persönlich bin wieder auf lang vergessene Dinge aufmerksam gemacht worden und konnte in dem Buch genau feststellen, ab wann ich mich intensiv mit Politik und Zeitgeschehen auseinandergesetzt habe. Was ich ebenfalls nie so wirklich wahrgenommen habe: Der Kommunikationsstil im Internet hat sich stark gewandelt. Nicht nur in Bezug auf den sehr extremen und radikalen Ton, sondern auch in Bezug auf Orthografie. Für mich war es verrückt zu sehen, dass *g* und *gg* geschrieben wurden, was anscheinend für „Grins“ und „Doppelgrins“ steht. LOL, kann ich da nur sagen und möchte mir damit ein abschließendes Urteil erlauben.

“Was, wenn ICH ein echter Mensch und IHR die Kunstfiguren seid?”

Was ich mir gewünscht hätte, wären die Anzahl der Likes, Kommentare und Retweets auf die einzelnen Tweets, um neben der zeitlichen Entwicklung auch einordnen zu können, welche Inhalte zu welcher Zeit bei den Usern besonders gut oder schlecht angekommen sind. Auch wenn Böhmermann nicht unbedingt als Umweltschützer bekannt ist, hat er mit dem Buch seine Recyclingfähigkeiten unter Beweis gestellt. Außer Vorwort und Nachwort (die sehr sachlich verfassten Fußnoten ausgeklammert) gibt es keinen Fließtext, der von ihm verfasst wurde und das ist aus mehreren Gründen schade. Böhnermamm ist auf Twitter und in seiner gesamten Öffentlichkeitsperson als Kunstfigur unterwegs. Als Satiriker und Moralist sind die Tweets ursprünglich verfasst worden und dementsprechend auch so im Buch vorhanden. Dabei wäre ein so zeitgeschichtliches und persönliches Werk eine großartige Chance, die Person Jan Böhmermann kurz hinter den bunkerähnlichen Fassaden herausblicken zu lassen. Der Fakt, dass das nicht passiert ist, schmälert den Informationsgehalt. Auf der anderen Seite sind Tweets ein Produkt ihrer Zeit und es dürften viele Tweets aussortiert worden sein, weil eine zeitliche Einordnung nicht mehr möglich war. 

Im Gegenzug finde ich beeindruckend, dass für viele Tweets nach teilweise einer Dekade noch Zusammenhänge gefunden wurden. Das Layout ist hervorragend und der Informationsgehalt ist eng. Zuerst war ich erstaunt über die Kategorisierung als „Sachbuch“, bereits nach den ersten Seiten ist das aber sehr gerechtfertigt. Das Buch gibt einen so tiefen Einblick in die letzten 10 Jahre, dass man sich tatsächlich in der Zeit zurückversetzt fühlt.

Ist Böhmermanns aktuelles Buch damit ein „narzisstischer Boomer Essay“ oder eine „zeitgeschichtliche Dokumentation“? Letzteres würde ich auf jeden Fall bejahen. Denn dieser entscheidende Punkt macht „Gefolgt von niemandem dem du folgst“ überhaupt erst zu einem lesenswerten Buch. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass das Buch nicht nur aufgrund der Seitenanzahl ein sehr schweres Gewicht mitbringt, sondern auch aufgrund des Narzissmus, der aus den Seiten hervorquillt. Auch wenn ich das Buch und das Buchkonzept recht boomerig finde, muss ich sagen, dass es nicht wirklich Fremdscham in mir ausgelöst hat und damit vollumfänglich lesenswert ist.

Alle Tweets, die im Buch ihren Platz finden, löscht Jan Böhmermann am Tag der Veröffentlichung von der Plattform Twitter. Sein Ziel, das Internet in die analoge Realität zu holen, hat er somit erreicht.

Autor: Max Schmid

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