Wie Unruhe und willkürlich scheinende Objekte gemeinschaftliche Produktivität und Strukturen hervorbringen können, hat Choreograph Sergiu Matis mit dem Ensemble vom schauspiel erlangen ergründet.

Vom 23. Mai bis 1. Juni fand in Erlangen, Fürth, Nürnberg und Schwabach das 24. internationale figuren.theater.festival statt. Es ist eines der größten Figurentheaterfestivals in Europa und zeigt 60 Compagnien aus 21 verschiedenen Ländern. Zwar deckte der Begriff „Figurentheater“ ursprünglich hauptsächlich das Puppenspiel ab, heute jedoch bietet das Progamm eine breite Auswahl an zeitgenössischem Figuren-, Bilder- und Objekttheater an. Bespielt wurden in Erlangen unter anderem das Experimentiertheater, das Markgrafentheater, der Redoutensaal und das Theater in der Garage am schauspiel erlangen. Einige Aufführungen fanden im öffentlichen Raum statt.
„Nocturnes for Restlessness“ von Choreograph Sergiu Matis ist in Kooperation mit dem Ensemble des schauspiel erlangen und des Figurentheaterfestivals entstanden. Außerdem ist die Uraufführung mit der offiziellen Eröffnung des neuen Zentrums für Austausch und Machen verbunden. Das ZAM bietet Werkstätten für Gestaltungsarbeit, Workshops, Veranstaltungen und mehr, in denen Bürger:innen gemeinsam zusammenkommen und sich kreativ einbringen können.
So fällt als Erstes der Raum selbst auf: Das Publikum ist in einer langen Reihe entlang des Ganges platziert. Insofern gibt es keine „richtige“ Bühne, sondern vielmehr einen Flur, der sich über viele Meter erstreckt. Die Eingangstüren aus Glas sind mit weißer und schwarzer Plastikfolie tapeziert. Der Teppichboden ist nur zu einem Bruchteil belegt. An den Wänden sind Stromkanäle erkennbar, in den Ecken sind provisorisch LED-Bars und Lautsprecher verkabelt. Die Decke ist nicht gestrichen und gibt Blick frei auf Rohre und Halterungen. Ein Bühnenbild gibt es in dem Sinne noch keines. So ergibt sich jedoch eine unglaublich ehrliche Präsentation des noch unfertigen Zustands des Raumes (und des ZAMs).



Diese rohe Offenlegung ermöglicht den vier Darsteller:innen, den Raum zu erproben und an ihm zu experimentieren. Gemeinsam füllen sie ihn in rhythmischen, jedoch ungewohnten Bewegungen aus. Ihre Körperglieder zucken abgehackt umher, sie nehmen verrenkte Positionen ein und wälzen sich in Alltagskleidung an Boden und Wand. Manchmal nähern sie sich einander, bevor sie wieder ihre eigenen Wege betreten. Der ganze Flur wird hektisch bespielt, mal sind sie dem Publikum ganz nah, dann wieder fern. Ihre Blicke wirken selbst bei Augenkontakt leer und gestresst. Die Tänzerin Marie Hanna Klemm beeindruckt wie gewohnt, aber auch Hannah Weiss, Luca Hass und Tobias Graupner halten sehr gut mit.
Begleitet wird das Ganze von Noise-Musik. Noise-Musik ist ein experimentelles Genre und benutzt statt konventionellen Melodien einen Klangteppich aus Geräuschen. Das Sounddesign von Sergiu Matis und Niklas Handrich lässt sich als ein Gemisch und Wechsel aus Maschinendröhnen, Windesrauschen und Donner beschreiben. Manchmal wird es mit dem Gesang von Hannah Weiss untermalt, die ausgebildete Sängerin ist. Die Texte sind lyrisch und fragmentiert, der Sinn lässt sich meistens nur schwer erschließen.
Plötzlich knallt es laut. Ich schaue nach rechts – Marie Hanna Klemm hat eine Holzplatte auf den Boden geworfen. Als wäre nichts geschehen, wird der Platte zunächst keine Beachtung mehr geschenkt. Die gesamte Aufführung ist geprägt von solchen Momenten: Da die Performer:innen die Länge des Flurs ausnutzen, ist es unmöglich, alle simultan ablaufenden Momente zu erfassen. Oft fokussiere ich mich auf eine Person oder eine Blickrichtung, bis eine Bewegung oder ein Ton aus der anderen Richtung meine Aufmerksamkeit verlagert. Mit einem Blick zu meinen Sitznachbarn bemerke ich, dass es nicht nur mir so geht. Jeder schaut zu jeder Zeit auf unterschiedliche Punkte im Raum. So spüren wir nicht nur die Unruhe, die von der Musik, den Darsteller:innen und dem Raum ausgeht, sondern nehmen aktiv an ihr teil.


„Are you the explorer or are you the one to be explored?“, fragt Hannah Weiss. Dann bilden sich langsam erste, einfache Strukturen. Aus metallenen Stängelchen und Rohren entsteht ein Musikinstrument. Ein Licht bestrahlt eine Wand und wird kurz zu einem Mond, dann zu einer kleinen Musical-Bühne. Die Schauspieler:innen packen Stifte und Papier aus Rucksäcken aus und kritzeln sie voll. Dabei bewegen sie sich ununterbrochen in ihrem abgehackten Rhythmus. Mittlerweile ist der Raum in ein tiefes Blau gehüllt. Tobias Graupner reißt die Folie vom rechten Eingang und stürzt ins Freie. Dann kniet er sich hin und rollt mit einer hölzernen Spule als Kopf über den Gang. Aus der Holzplatte wird ein Schützengraben, dann ein Tisch, sogleich wird eine Bank aus dem Eingangsbereich geholt. Ein Bildschirm wird dazugeschaltet und erzeugt abstrakte, neonfarbene Formen und Figuren. Plötzlich befinden wir uns in einem Wohnzimmer mit Fernseher. Genauso schnell wird das Bild wieder verdrängt – nun sind sie Entdecker auf einer Rast. Eine Bohrmaschine kommt zum Einsatz und wird mit trillerndem Vögelgezwitscher kontrastiert.
Nach getaner Arbeit ruhen sich die Kreaturen zusammen aus. Eine friedliche Atmosphäre bildet sich, sie wirken erleichtert und zufrieden. Diese schwappt auf den Zuschauenden über, unter anderem, weil man sich auf einen einzelnen Moment konzentrieren kann. Aus Zinndosen trinken sie destilliertes Wasser, Tobias Graupner überschüttet sich mit dem Kanister und befindet sich kurz in einer Dusche. Außerdem scheinen die Kreaturen nicht von hier zu sein, wie sich in ihren Gedichten offenbart: „The earth is collapsing but we‘re just visitors.“ Dann singen sie zusammen, verwachsen ineinander. Aus den hinterlassen Bänken, Tischen, Papierfetzen, Metallgittern, Spulen und Stangen werden Sträucher, Bäume, ein Wald. Eine geschädigte Welt hat sich erholt.


Insgesamt passt das Stück perfekt für die Eröffnung des ZAM. Ein Ort, der den Bürger:innen der Stadt Erlangen freie Ideen und produktives Arbeiten ermöglichen soll, aus Material Kunst erschafft. Der Choreograph Sergiu Matis reizt so viele Sinneskanäle wie möglich und macht so die Unruhe zu einer ästhetischen und körperlichen Erfahrung. Das Ende thematisiert flüchtig eine desolate Szenerie im Angesicht des Klimawandels, verspricht jedoch fast schon zynisch eine Ruhe nach dem Sturm. In der knappen Stunde schafft die Aufführung es durchgehend, meine Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Ein ungewöhnlicher, aber gelungener Abend.
Autor: Mark Schulze