Nein, nein. Um die umstrittene Fußball-WM in Katar geht es hier nicht. Mein Fußball findet nicht in klimatisierten Stadien in der Wüste statt, sondern eher auf nicht überdachten Stehplätzen in (ost-)deutschen Kleinstädten.
Im vergangenen Jahr habe ich mich darüber beklagt, wie sehr ich den Fußball vermisse und warum ich mich nicht mit Übertragungen von Geisterspielen zufrieden stellen lassen kann.
Es ist nun bereits einige Monde her, aber Ende Juli war es für mich endlich soweit: Zwei Jahre und vier Monate nach dem ersten Corona-Lockdown war ich wieder im Fußballstadion.
Seit 2008 bin ich Fan des FC Carl Zeiss Jena. Mein erstes Spiel war eine Begegnung in der 2. Bundesliga zwischen Jena und dem Team aus Wiesbaden. Während ich bei diesem Spiel noch mit meinem Vater auf einer der Tribünen Platz nahm, zog es mich später – wohl auch aus Kostengründen – mit Freunden auf die Stehplätze. Und das heißt in Jena Südkurve. Dies ist die Heimat der aktiven Fanszene. 90 Minuten Gesang, Fahnenschwingen, Hüpfen und Schreien. 90 Minuten alles geben, dass die Mannschaft auf dem Rasen den Ball im Tor versenkt, 3 Punkte auf der Tabelle verbucht werden und am Ende der Saison nicht absteigt.
Der Name FC Carl Zeiss Jena dürfte vielen Fußball-Fans ein Begriff sein. 3 Meistertitel und 4 Pokalgewinne in der DDR und 87 Mal durfte man im Europa-Pokal ran. 1981 hätte das auch fast geklappt, jedoch ging das Finale im Europa-Pokal der Pokalsieger gegen Dynamo Tiflis verloren.
Heute heißen die Gegner nicht mehr AS Rom, Real Madrid oder Benfica Lissabon. Die Realität heißt Meuselwitz, Greifswald oder Halberstadt. Viele Vereine aus der ehemaligen DDR haben heute stetige finanzielle Schwierigkeiten und versuchen sich mit Ach und Krach in den Profiligen zu beweisen oder sind bereits in der Bedeutungslosigkeit verschwunden.
Nach dem Abstieg aus der 2. Bundesliga im Jahr 2008 folgten für Jena vier Jahre in der 3. Liga, dann fünf Jahre in der viertklassigen Regionalliga. 2017 gab es einen Hoffnungsschimmer mit dem Wieder-Aufstieg in die 3. Liga, jedoch folgte 2020 wieder der Abstieg in die Regionalliga, in der man sich nun in der dritten Saison befindet.
In einem Lied der Fans heißt es. „Oh FCC, wir sind da. Jedes Spiel. Ist doch klar. 4. Liga tut schon weh. Scheiß egal, oh FCC!“ Denn die Liebe der Fans zum Verein und zum Sport kennt keine Ligazugehörigkeit – also die der treuen Fans, denn den Unterschied zwischen den Ligen merkt man durchaus an den Zuschauerzahlen. Doch der Blick geht nach vorn und nach oben. Dafür wird derzeit auch das Stadion umgebaut.
Ein erstes Gefühl für die großen Mannschaften konnte der FCC Ende Juli im DFB-Pokal schnuppern. Zu Gast war ein Bundesligist aus Wolfsburg.
Nachdem Zuschauerbegrenzungen und andere corona-bedingte Auflagen nach und nach entfallen sind, ist die aktive Fanszene wieder ins Stadion zurückgekehrt. Jedoch nicht am altbekannten Ort im Stehplatzbereich der Südkurve, denn diese ist bereits den Abriss-Baggern zum Opfer gefallen, sondern im Übergangsdomizil auf der Hauptbühne.
DFB-Pokal. Ausverkauftes Stadion (was aufgrund des Umbaus jedoch nur etwa 6000 Zuschauer:innen zur Folge hatte). In der Nacht vorm Spiel konnte ich nur schlecht schlafen, weil ich so aufgeregt war, dass ich endlich wieder ins Stadion gehe. Und weil ich mich so auf die gute Stimmung gefreut habe und auf den vorprogrammierten Spaß.
Am Tag des Spiels lege ich mir also meinen Schal um den Hals und breche in Richtung Stadion auf. In der ganzen Stadt sieht man, dass Fußballzeit ist. An jeder Straßenbahnhaltestelle stehen Fans in blauen Trikots. Die Biergärten sind gefüllt, denn man trifft sich bereits vor dem Spiel mit Freund:innen und trinkt noch ein kühles Getränk. Doch auf dem Weg zur Kartenkontrolle kommt mir doch die Sorge auf: Kann ich eigentlich die ganzen Lieder nach all der Zeit noch? Eine Angst, die nach einer Minute im Fanblock vergangen ist. Denn die Texte und Rhythmen sind nach all den Jahren einfach eingebrannt und werden, wie ein “Vater Unser” in der Kirche, sofort abgerufen und wiedergegeben. Endlich wieder schief singen und schreien. Endlich wieder verschwitzt mit den Schultern des Nachbarn verhaken und hüpfen. Endlich wieder Bier aus Plastik-Bechern. Endlich wieder Fußball!
Die Mannschaften betreten den Platz. Bunter Rauch erfüllt das Stadioninnere. Damit hatte ich nicht gerechnet, aber irgendwie hat es mich doch gefreut, als der Silvester-Geruch in meine Nase zog und dies den Block richtig zum Kochen brachte.
Ja Pyrotechnik ist im Stadion verboten. Und ja, dies bringt wahrscheinlich auch Gefahren mit sich. Und ja, der Verein wird dafür wieder eine deftige Geldstrafe erhalten. Aber in Verbindung mit Konfetti, bunten Luftballons, riesigen Schwenkfahnen und den komplett in blau gekleideten Fans sah es so verdammt gut aus. Fußball eben.
Ganz dem Motto „Going in with a bang“ begann so der Pokalfight zwischen dem Viert- und Erstligisten – getreu der biblischen Floskel „David gegen Goliath“. Und bis in die Nachspielzeit der zweiten Halbzeit sah es auch aus, als ob David tatsächlich eine Chance hat. Doch dann verwandelte der Wolfsburger Bundesligist, der sich gegen die unterklassige Mannschaft erstaunlich schwer tat, doch noch einen Freistoß und das Spiel ging 0:1 verloren. Schade.
Scheißegal! Denn es war ein Fußballfest mit unglaublich guter Stimmung, das Lust auf mehr macht. Und ich konnte feststellen: Ja, ich kann es also noch. Ich kann 90 Minuten am Stück hüpfen, singen und schreien. Ich kann es so sehr, dass die Person rechts von mir nach 20 Minuten den Platz gewechselt hat und sich dabei das linke Ohr gehalten hat. Ich kann mich noch mit hunderten Fremden freuen und ich kann auch noch pöbeln. Und ich habe trotz, oder eben wegen, der langen Pause immer noch Lust darauf.
PS: An dieser Stelle nochmal Entschuldigung, unbekannter Nebenmann!
Autor: Marius Beyer