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Album der Woche KW 6: 1 – Aggregat

Foto: Armin Thalhammer

Am 11. Dezember veröffentlichte das Lübecker Trio Aggregat ihr Debüt-Album „1“. Mit krachenden Synthieburgen ist es der perfekte Berghain-Ersatz für den Lockdown. Mit drückenden Drums und verzerrten Cello-Sounds wirkt es auf Arme und Beine wie ein zu langer Blick in das helle weiße Schneeglitzern auf die Augen. 

Ich habe das Album das erste Mal nachts vorm Einschlafen gehört und sofort hat es mir irreparabel das Hirn durchgebrezelt. Das war ein notwendiger Fehler den ich machen musste. Denn nur so habe ich ungeschönt die volle Wucht auf einmal wahrnehmen können, nichts und niemand hat mich abgelenkt. Die Dunkelheit hat jede Ablenkung geschluckt, das leere Nichts an meinen Zimmerwänden war plötzlich unendlich groß. In dem Moment war ich einfach ganz woanders. 

Sind die Jungs aus Norddeutschland der neue Stern am Techno-Himmel? Wobei reiner Techno bzw. Electro eher untertrieben ist, hört man sich beispielsweise Songs wie „Gorgeous Clocks“ oder „C.R.T.“ an. Für meinen Geschmack ist hier ein typisches Genre-Schubladen-Denken fehl am Platz. Denn das Lübecker Trio hebt die von Jazz-Musikern erschaffene instrumentale Dance-Musik auf ein neues, härteres Level. Mit analogen Synthesizern, Drums und Cello räumen die drei Jungs das Feld von hinten auf. Sie kreieren eine Musik frei von Funk-, Blues- oder Soulklischees und bewegen sich mehr in eine Richtung des Indie-Electro und Big Beat. Die Idee ist es, Electro zu spielen und in der Lage zu sein, den Sound on point zu erzeugen, die Atmosphäre des Publikums zu spüren und dann in Interaktion zu treten. Die Musik von Aggregat lebt von der Erzählkraft der Melodie, die vor allem den sprudelnden Drums vertraut. 

Vor allem Radiohead hat für sie eine große Vorbildfunktion. Ein Verweis auf Kraftwerk und Jean-Michel Jarre bleibt natürlich auch nicht aus. Interessant ist auch, dass die Musik von Philipp Glass und Steve Reich den Jungs nichts Neues ist. Beide sehr wichtige Vertreter der Minimal Music, einer neoklassischen Musikströmung, die ich allen ans Herz legen kann. Diese clusterartigen Einflüsse ziehen sich durch das gesamte Album, besonders in “Nails” kann man repetitive Muster erkennen. 

Ein Rätsel bleibt mir der Titel. Ungewohnt einfach lautet er „1“. Was hat es damit auf sich? Wie wird er ausgesprochen? Deutsch? Englisch? Steckt da was Genaueres dahinter? Wie das immer so ist mit Interpretationen. Ist ein Verweis auf die minimalistische Einfachheit? Oder die Jungs haben einfach nur geistlos die Zahl „Eins“ als Titel für ihr Debut-Album gewählt. 

Hier besteht übrigens große Verwechslungsgefahr. Google-Ergebnisse nach „Aggregat 1″ führen ins musikalische Nichts. Ausgespuckt werden nur Kurzanleitungen zu Raketentriebwerken und Winkelverschraubungen. Wobei das Album „1“ genauso klingt. Wuchtig schieben Synthesizer den Bass vor sich her. Das Cello ist derart verfremdet, dass es wie von Ferne durch eine Industriehalle singt oder im Tempo der Drums zerhackt wird. Die Drums lassen kein Körperteil still, laden zum Kopfnicken und Tanzen ein und plappern unaufhörlich vor sich hin. Es ist ein futuristisches Artwork, das auch gut der Soundtrack zu einer rasanten Verfolgungsjagd durch dystopische Häuserschluchten sein könnte. Die krachende und kantige Electro-Musik und der dystopische Indie-Pop sprengen Genregrenzen. Entscheidend hierfür: Das ganze Album kommt ohne Gesang aus, und das mit überdurchschnittlich langen Songs. Wir müssen uns eine Welt abseits von radiotauglichen Drei-Minuten-Lieder denken. Ich schätze „1“ sehr dafür. Die Songs sind die rettende Insel im Meer aus Millionen an Mainstream-Radio-Edits. Kaum einer der 10 Songs ist kürzer als 5 Minuten. „Asteroids“ pumpt sogar mehr als sieben Minuten Adrenalin durch den ganzen Körper. Die Songs dürfen und reißen mit ihren Riffs Planeten ein. Die scheppernden Klangteppiche sind mal wunderschön komplex, mal stupide four-to-the-floor. André Wittmann, Daniel Sorour und Matho Thomsen haben eine Welt geschaffen in der Cello und Synthesizer aufeinander abgestimmt sind, wie man es von zwei Instrumenten, die unterschiedlicher eigentlich nicht sein könnten, nicht erwartet.

Autor: Sebastian Schroth